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14.08.2024 Kategorie: Wort zur Zeit

Eine Hand voll Gelassenheit

Wort zum Sonntag von Propst Dr. Ulrich Lincoln

Liebe Leserinnen und Leser,
heute schon gechillt? Chillen ist in. „Chill mal, Alter,“ sagt mir meine Tochter, und sie meint: Reg` dich nicht so auf, sondern sei entspannt, ausgeruht, gelassen, lässig – eben gechillt. Chillen ist etwas Gutes, scheint mir. An heißen Sommertagen erinnert das Chillen an Kühle und Schatten. „Chillen“ ist ein schönes deutsches Lehnwort aus dem Englischen, das uns an vielen Stellen begegnet. In einem Möbelhaus sehe ich einen Chill-Sack im Angebot; in Wolfsburg gibt es einen Hügel, den manche „chill hill“ nennen; in Vorsfelde kann man chill-out-Konzerte vor der Kirche erleben. Chillen allerorten. Ich habe nichts dagegen.

Gibt es auch Gechilltes in der Bibel? Na klar. Zum Beispiel diesen Satz: „Eine Hand voll Gelassenheit ist besser als beide Fäuste voll Mühe und Haschen nach Wind“ (Prediger 4, 6). Eine Hand voll Gelassenheit: Es klingt fast so, als wäre Gelassenheit etwas, was direkt vor mir liegt, was ich nur aufzuheben brauche, so wie der Sand am Meer. Aufheben, betrachten, fühlen, durch die Finger rinnen lassen. Mehr nicht. Eine Hand voll Gelassenheit inmitten der Dauerbeschleunigung des Alltags. Eine Prise Leichtigkeit.

Das also ist die biblische Werteordnung an dieser Stelle: Lieber eine einzige Hand voll Gelassenheit als zwei starke Fäuste voll Arbeit, Anstrengung und Ehrgeiz. Warum? Vielleicht weil man mit Gelassenheit weiter kommt. Gelassenheit hat mit Lassen zu tun: etwas geschehen lassen, sein lassen, kommen lassen. Warten. Und den Sand durch die Finger rinnen lassen. Ganz gechillt.

Das alte Bibelwort und die Sprache der jungen Leute meinen offenbar dasselbe. Was für eine überraschende kleine Koalition der Weisheit!

Foto von bogitw-851103 auf pixabay.com